Sehen und gesehen werden
Das ist so ein geflügelter Satz, der wohl mehr ein Promispruch ist. Er steht vor allem dafür, gesellschaftliche Veranstaltungen zu besuchen, nicht um der Veranstaltung willen, sondern um sich und seine gesellschaftliche Stellung zu demonstrieren.
Bei einer Fashion Week geht es in erster Linie natürlich um Mode. Mindestens genauso wichtig ist vielen Besuchern, dass sie gesehen werden beim Ansehen der Mode.
Beim Internationalen Springertag geht es vor allem darum, dass die Sportler ob ihrer sportlichen Leistungen gesehen werden.
Natürlich hilft es auch, wenn das Outfit, vor allem das der Sportlerinnen, ins Auge sticht.
Beim Bewerten der Sprünge zählt auch der Gesamteindruck. So viel zum Gesehen werden.
Aber viel interessanter ist für Wasserspringer das Sehen. Für Laien ist es unvorstellbar, dass Springer trotz der schnellen Drehungen im Sprung etwas sehen können. Man spricht hier von der optischen Orientierung.
Zur Verdeutlichung der Schwierigkeit sich zu orientieren, hier einige "schmerzliche Fakten":
Man sollte sich vergegenwärtigen, dass bei einem 4 1/2 Salto vorwärts (109 C) vom 3-m-Brett Winkelgeschwindigkeiten von 1140 bis 1160°/s erreicht werden.
Bei Sprüngen mit 2 1/2 Drehungen, z. B. beim zweieinhalbfachen Salto rückwärts gehockt (205 C) vom 3-m-Brett werden schon Winkelgeschwindigkeiten von etwas über 900°/s erreicht.
Das bedeutet: In einer Zeitspanne von 0,1 s (einer Zehntelsekunde) dreht der Sportler 90°. Verschätzt er sich mit dem Strecken um diese 0,1 s, dann taucht er nicht senkrecht ein, sondern waagerecht und geht gar nicht unter - Autsch!
Zeitspanne von 0,1 s
Die Erarbeitung der optischen Orientierung nimmt im Training einen großen Teil ein.
Manche Athleten haben sofort einen "Durchblick", andere leider nie. Letztere sind deshalb aber nicht auf verlorenem Posten. Sie "orientieren" sich mit Hilfe des Gefühls, der Akustik und ihrem individuellen Zeit- und Lageempfinden.
Die beste Variante, die richtige Entscheidung für den exakten Zeitpunkt für das Öffnen des Sprunges zu finden, ist die Kombination aus allen Faktoren.
Das Spotting, wie man das Sehen im Sprung international bezeichnet, spielt im Trainingsprozess eine wichtige Rolle.
Die richtige Kopfhaltung im Sprungansatz und die Kopfbewegung in der Drehung sind von großer Bedeutung. Das Fixieren der richtigen Orientierungspunkte kann entscheidend zum perfekten Sprung beitragen. Deshalb lautet ein Merksatz der Trainer: "Achte auf das Wasser, denn Wasser ist immer unter dir, ganz gleich wo du springst." Wer sich als Sichtpunkt die nächste Plattform unter der Absprungfläche ausgesucht hat, kann ein böses Erwachen erleben, wenn die Plattformen in einer anderen Halle anders angeordnet sind.
“Achte auf das Wasser, …”
Um das Sehen im Sprung zu schulen, nutzen die Trainer methodische Hilfsmittel. Sie setzen das Saltodrehgerät und die Longe ein, legen farbliche Merkmale aus oder werfen dem Athleten zu einem bestimmten Zeitpunkt beim Springen auf dem Trampolin kleine Bälle zu.
Das Sehen ist für einen Sportler wichtig. Wie er darauf reagiert, hängt auch von seiner Reaktionsschnelligkeit ab. Aber das ist ein anderes Thema.
Dem aufmerksamen Zuschauer bleibt nicht verborgen, dass im Sprungbecken Wasserspritzer oder Blasen dafür sorgen, dass die Wasseroberfläche nicht glatt ist. Dadurch können sich die Springer besser auf das Eintauchen vorbereiten.
Und was sieht nun der Kampfrichter?
Für ihn ist es egal, ob der Sportler mit oder ohne gute Sichtorientierung seine Sprünge fehlerfrei ins Wasser bringt. Der Kampfrichter sieht nur die technische Ausführung und das spritzerlose Eintauchen. Und wenn dies alles gut geklappt hat, sieht sich der Kampfrichter genötigt, zu hohen Noten zu greifen und die Zuschauer sehen den Sportler eventuell auf dem Siegerpodest.
Man sieht sich beim 67. Springertag.
Monika Dietrich
Stadtwerke